Während man bei den diplomatischen Schreiben der US-Botschaften auf das illegale Durchstechen durch Wikileaks zurückgreifen muss, sind solche für die Schweiz – zumindest für historische Berichte – frei über das Internet verfügbar. Mein Interesse an den Berichten von Hans Keller, dem Botschafter der Eidgenossenschaft in Peking von 1963 bis 1966, wurde durch eine Ankündigung einer Ausstellung an der ETH Zürich geweckt. Tatsächlich finden sich seine Berichte online bei der Forschungsstelle Dodis.
1966 wurde Hans Keller nach der Rückkehr aus dem Urlaub mit den dramatischen Veränderungen in Peking durch die Kulturrevolution konfrontiert. Von einer «Brücke der Freundschaft» durch Diplomatie war wenig zu spüren.
Als er mit dem Zug aus der Sowjetunion ankam, erwarteten ihn schon am Bahnhof die Rotgardisten, Zehntausende von ihnen «beiderlei Geschlechtes belagerten Perrons, Treppen, Hallen und den grossen Bahnhofplatz, warfen feindliche oder bestenfalls missbilligende Blicke auf die Ankömmlinge mit ihren hier verpönten westlichen Kleidern, Koffern usw. und versperrten überall den Durchgang. Unser vollständiges Botschaftspersonal sowie das befreundete dänische Botschafterpaar waren zum Glück bis zu unserem Wagen vorgedrungen, um uns die ersten Schritte in einem Lande zu erleichtern, das ich kaum wieder erkannte.»
«Wir waren geradezu froh, als wir von Aufsehern für kurze Zeit in einen besonderen Raum für Ausländer gesperrt wurden, wo unsere Papiere einmal mehr kontrolliert werden mussten. Dann endlich durften wir in unseren Wagen langsam wegfahren.» Schnelleres Fahren wäre zu gefährlich gewesen, denn so hätte man «die vorwiegend ab dem Lande stammenden, keine Verkehrsregeln kennenden Gardisten, die wie Ungeziefer überall massenhaft herumlungerten» überfahren können – mit katastrophalen Konsequenzen.
Glücklicherweise sei das Botschaftspersonal deportiert oder umgebracht worden – «wie es anderswo verschiedentlich vorgekommen sein soll.» Tausende der Rotgardisten seien in einem Haus nahe der Botschaft und auf der Strasse mit «Essen, Schlafen, Lernen, Singen usw. beschäftigt.» Im Wagen und erst recht zu Fuss bereitetes oft Mühe, sich durch die Menschenmasse durchzukämpfen. «Alle Haus- und Strassenmauern sind über und über mit Zitaten Maos überklebt und alle Gardisten lesen immer wieder aus der roten Mao-Bibel, ohne die sie offenbar nichts mehr zu unternehmen wagen.» Zahlreiche Latrinen, die an der Strasse errichtet wurden, «verbreiten einen Gestank, der zeitweise fast unerträglich wird.»
Radio- und Fernsehapparate, europäisch aussehende Kleider und Schuhe, Uhren, Bücher, Photoartikel und andere Zeugen dekadenter westlicher Lebensweise «wurden das Opfer einer Säuberungskampagne, die mich an ähnliche Gewaltakte der Hitlerjugend unseligen Gedenkens erinnerte.»
In Nebenstrassen, Hinterhöfen und anderswo würde sich Schlimmeres abspielen: «Verprügelung völlig wehrloser, namentlich älterer, schutzloser Männer und Frauen». Ihre Schuld hätte nur darin bestanden, ausländische Bücher, Apparate oder Kleider zu verwenden oder Kontakte mit Ausländern zu pflegen. «Einem für ausländische Patienten zugänglichen Arzt wurde das Ordinationszimmer samt der Fachausrüstung kurz und klein geschlagen und er selber von den Gardisten so schwer verletzt, dass an seinem Aufkommen gezweifelt wird.» Mit Bambusstöcken seien seine Beine gebrochen worden. Im grössten Spital hätten die Angriffe der Roten Garden und die Demütigungen der Ärzte für mehrere Selbstmode gesorgt.
«Der Verkehr versinkt im Chaos.» Die Polizisten würden sich nicht trauen, die Gardisten wegzujagen, welche die Verkehrskreuzungen übernahmen. «Sobald eine Stockung entsteht, nehmen die Verkehrsgardisten Zuflucht zu ihrer Mao-Bibel, vermehren damit natürlich nur den allgemeinen Wirrwarr» – sie würden sich freuen, wenn sie die terrorisierten Fahrer in die Verzweiflung trieben.
Überall in der Stadt brüllten die Roten Garden Mao-Zitate. Alte Männer und Frauen würden als «entlarvte Kapitalisten» und «Reaktionäre» auf Brust oder Rücken Plakate tragen müssen, «in denen sie sich selbst reaktionärer und anderer regimefeindlicher Handlungen oder Gedanken bezichtigen.» Sie müssten erniedrigende Arbeit wie Strassenfegen oder die Abfuhr von Exkrement übernehmen, seien nur in Lumpen gekleidet und würden «von der jugendlichen Menge höhnisch verlacht, oft sogar gestossen und geschlagen».
«Ich musste mich wiederholt abwenden, um nicht vor Zorn mit dem nächstbesten Schlaginstrument auf das jugendliche Gesindel loszuhauen und die wehrlosen Opfer zu be-freien. Wie viele andere Ausländer konnte ich mehrere Nächte fast nicht mehr schlafen.»