Sonntag, 11. März 2012

Probleme und Dilemmata

In unserer von der Aufklärung und der Technologie gezeichneten Zeit erwarten wir, dass wir alle Schwierigkeiten unseres Lebens als "Probleme" definieren können. Probleme kann man lösen. Selbst wenn wir keine Lösung kennen, haben wir die technologisch-inspirierte Hoffnung, dass wir eine Lösung in naher oder ferner Zukunft finden werden.
Ein Dilemma dagegen hat keine Lösung. Es ist die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wir haben zwar die Möglichkeit zu wählen, aber keine dieser Möglichkeiten ist eine Lösung. Den modernen Menschen missfällt solch eine Aussicht. Wir sind es gewöhnt, dass sich die Menge unserer Möglichkeiten immer weiter vergrössern und wir Lösungen für alles finden. Ironischerweise scheinen viele Probleme erst durch von Menschen hervorgebrachten "Lösungen" entstanden zu sein.
Die Folgeeffekte von Lösungen waren oft nicht zu überblicken und sorgten für neue Probleme. Die Ölkrise wurde durch grössere Investitionen in die Atomkraft "gelöst". Der Klimawandel ist nicht mehr zu stoppen, nur noch zu erleichtern. Trotzdem behandeln wir ihn als Problem und nicht als Dilemma, das man zu einem grossen Teil nicht lösen kann. Zumindest die naive Technikgläubigkeit, dass wir in einem Paradies aller gelösten Probleme einmal aufwachen können, muss hinterfragt werden. Die zukünftigen Probleme der Gentechnik, die als Lösung für Krankheiten und Ernährungsprobleme propagiert wird, sind jetzt schon erahnbar.
Unsere sozialen Probleme – die Fragmentierung unserer Gesellschaft, die Radikalisierung einzelner Gruppen wie etwa den Islamisten, die grössere Ungleichheit im Materiellen wie in der Bildung, die Überalterung der Bevölkerung – sind hauptsächlich Dilemmata. Wir können sie nicht einfach lösen, ohne negative Auswirkungen anderweitig zu schaffen.
Damit müssen wir uns abfinden. Es ist kein leichtes Leben hier im Irdischen und es ist besser, sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein und sich auch Grenzen aufzuerlegen, als mit jeder technisch möglichen Lösung nach vorne zu preschen.
Jedoch benötigen alle Dilemma eine Entscheidung. Nichts zu tun ist auch eine Entscheidung. Eine Situation, in der uns alle Entscheidungsmöglichkeiten nicht gefallen, ist keine Entschuldigung für Tatenlosigkeit. Da so gut wie alle technischen Entscheidungen negative Effekte haben können, ist ein wichtiger Teil unserer heutigen Entscheidungsfindung die Risikoabschätzung. Sie sagt uns, was schlechtes passieren kann und mit welcher Wahrscheinlichkeit. Vielleicht ist es nur eine Illusion, dass wir das tatsächliche Risiko einer Entscheidung finden können. Aber es ist eine nützliche Illusion. Denn ohne solch eine Illusion machen wir uns selbst unmündig: Wir wollen nicht einmal wissen, was wir erfahren könnten.