Sonntag, 29. Januar 2012

Die Verachtung des Genusses?

Im "Spiegel" stand vor kurzem ein Bericht über die Schädlichkeit oder Nutzlosigkeit von Vitaminen – und wie die Nationalsozialisten diese Stoffe als Allheilmittel propagierten. Das erinnerte mich an Aussagen des Lebensmittelchemikers Udo Pollmer, der auch schon die Rohkost bzw. Vollwertkost mit den Ideen des Dritten Reiches verbunden hatte. Es scheint die eine Verachtung des Genusses, ein Hang zum Glauben an die Askese als Grund für diese immer wiederkehrenden Popularität von ungeniessbarem oder schmerzvollem Essen oder Verhalten (z.B. übertriebene Fitnessprogramme).
Theoretisch versuchte die Verachtung des Genusses Robert Pfaller in seinem Buch "Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft" zu beleuchten. Wir werden Untertanen unseres eigenen Drang zum Überoptimieren. Unsere Gesellschaft verliert die Beziehung zu Ritualen und zum Feiern, zum Sich-gehen-lassen. Ein langes Leben und Gesundheit scheint über allem zu stehen – doch was soll dieses gesunde, lange Leben wenn darin nichts mehr genossen wird? Zum Titel "Das schmutzige Heilige" kommt es, dass alles was Licht und Gut ist, auch eine negative Seite benötigt. Um das Leben zu geniessen, muss das Schmutzige zugelassen werden, die Lust und das Ungesunde – zeitweise – erlaubt sein.
Dies umfasst das Essen, das Rauchen, den Sex. "Wir überlassen den Sex der Unterschicht", erkennt Pfaller. Wer alles optimieren will, in Askese und in Neutralem aufgehen will, an dem geht auch das Leben vorbei. Wenn Politiker den Gesundheitsaposteln folgen und das Rauchen weiter einschränken, das Fett besteuern und Angst vor dem Sex erzeugen, dann wird die Freiheit des Einzelnen eingeschränkt. Jeder hat die Freiheit sich selbst zu gefährden – um das eigene Leben auch auskosten zu können.

Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft: Symptome der Gegenwartskultur

Lexikon der populären Ernährungsirrtümer: Mißverständnisse, Fehlinterpretationen und Halbwahrheiten von Alkohol bis Zucker

Sonntag, 22. Januar 2012

Der Reiz der Anarchie

Die Ausführungen von Mark Lilla über die Tea Party (Revolutionäre Republikaner) veranlassten mich darüber nachzudenken, worin denn der grosse Reiz der Anarchie und des Anarchismus besteht – auf der linken wie auf der rechten Seite des politischen Spektrums.

So versucht Robert Nozick in seinem Standardwerk Anarchy, State, and Utopia den Minimalstaat zu erdenken und zu rechtfertigen. Wie kann man in einer Gesellschaft leben, ohne dass der Staat umverteilt und die Gesellschaft lenken will? Für Europäer hören sich solche Gedanken wie Traumreisen in eine ferne Galaxie an. Politik und staatliche Institutionen sind so eng verwoben mit unserem täglichen Leben, dass wohl niemand sich ein Leben in unserer komplexen Gesellschaft ohne sie vorstellen kann.

Doch die Argumente für ein staatliches Eingreifen sind auf schwachem Grund gebaut. Falls der persönliche Besitz absolut wie das eigene Leben geschützt wären, wäre jede Form von Enteignung als illegitime Gewalt dem Staat unmöglich. Wie würde dann ein Staat aussehen – könnte eine Gesellschaft nur auf Freiwilligkeit basieren?

Nur Freiwilligkeit würde wohl nicht ausreichen, aber Nozick versucht dieser Idee möglichst nahe zu kommen. Und dieser Gedanke treibt eben auch die Tea Party-Anarchisten umher. Sie sind gerade auf der genannten Traumreise Richtung einer ohne staatlichen Zwang lebenden Gesellschaft. Sozusagen die Hippies der rechten Szene.

Die Faszination ist im Mainstream Europas noch nicht angekommen. Zwar bekennen wir uns vollmundig zur Freiheit, aber wir fühlen uns doch wohler, wenn sich die "Empfindung aller recht und billig Denkenden" auch in den Gesetzen widerspiegelt.

Ist es ein Zeichen grosser Abneigung gegen die herrschende Ordnung oder nur eine noch grössere Naivität, wenn man die Gesellschaft mit den wenigsten Regeln als Utopie ausruft?


Anarchy, State, and Utopia

Samstag, 21. Januar 2012

Revolutionäre Republikaner?

Schaue ich mir den laufenden Präsidentschaftsvorwahlkampf der Republikaner an, scheint mir die politische Welt der USA immer weiter entfernt zu sein. Obama hätte in Europa mit einer riesigen Mehrheit gewonnen, während er in den Vereinigten Staaten auf eine radikale Opposition stösst – und er bleibt in Europa weiter beliebter. Seine Gegner, die republikanische Seite, scheint zu einem grossen Teil in einer anderen Welt zu leben, einer Gedankenwelt die vom politischen Mainstream Europas aus gesehen auch vom Mars stammen könnte.

Andere argumentierten schon, dass dies für die weltpolitische Lage gefährlich werden könnte. Wie soll der Westen sich für sein Erbe der Menschenrechte und der Demokratie einsetzen, wenn er sich nicht mehr untereinander verständigen kann? Und wie soll man zusammen weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrisen begegnen? Gefährlicher wird dies durch den sich anscheinend weiter radikalisierenden konservativen Rand der amerikanischen Gesellschaft. Selbst die Republikaner untereinander scheinen sich im Präsidentschaftsvorwahlkampf 2012 nicht mehr zu verstehen.

Mark Lilla, Professor an der Columbia-Universität in New York, hat einige Artikel in der New York Review of Books veröffentlicht, in denen er die Ideengeschichte der heutigen Republikaner und einer einflussreicher werdenden Strömung in ihr – der Tea Party – diskutiert.

In Republicans for Revolution rezensiert Lilla einen Erklärungsversuch für die heute in den USA herrschenden konservativen Strömungen und ihrer Geschichte: The Reactionary Mind. Lilla ist wichtig dem Autor Corey Robin entgegenzuhalten, dass die immer stärker werdende libertäre Tea Party-Bewegung keine Konservativen sind, die das Erbe der guten alten Zeit bewahren wollen. Sie sind Reaktionäre, die verstanden haben, dass es kein zurück zu dieser guten alten Zeit gibt – aber die Verabscheuung der heutigen Gesellschaft und Politik und die Verehrung dieser guten alten Zeit bleibt. Die heutige Ordnung wird also bekämpft mit dem Wissen, dass etwas Gutes der alten Zeit bestehen bleiben wird. Sie sind revolutionär um das Alte zurückzubekommen. So schreibt er über das Wesen der Reaktion:
They believe that the only sane response to an apocalypse is to provoke another, in hopes of starting over. Ever since the French Revolution reactionaries have seen themselves working toward counterrevolutions that would destroy the present state of affairs and transport the nation, or the faith, or the entire human race to some new Golden Age that would redeem aspects of the past without returning there.
Der jetzige Politikbetrieb muss also zerstört werden, um in die gute alte Zeit zurückzukommen. Diese revolutionäre Sicht hängt mit der vorherrschenden Sichtweise der Tea Pary zusammen. Lässt man die jetzigen Zustände bestehen, kommt es zum Untergang:
The real news on the American right is the mainstreaming of political apocalypticism. This has been brewing among intellectuals since the Nineties, but in the past four years, thanks to the right-wing media establishment and economic collapse, it has reached a wider public and transformed the Republican Party. How that happened would be a long story to tell, and central to it would be the remarkable transmutation of neoconservatism from intellectual movement to rabble-rousing Republican court ideology.
Die republikanischen Intellektuellen haben diese Weltsicht schon länger gepflegt, nun ist sie auch im Mainstream angekommen. Die Revolution der liberalen, herrschende Klasse braucht ein Zugpferd im Amt des Präsidentschaftskandidaten. Egal wie unqualifiziert dieser ist:
Apocalypticism trickled down, not up, and is now what binds Republican Party elites to their hard-core base. They all agree that the country must be “taken back” from the usurpers by any means necessary, and are willing to support any candidate, no matter how unworldly or unqualified or fanatical, who shares their picture of the crisis of our time.
Was in der republikanischen Partei abläuft, ist kein Konservatismus, sondern eine Revolution, die nur weiss zu zerstören – aber nicht weiss, was man aufbauen will:
All this is new—and it has little to do with the principles of conservatism, or with the aristocratic prejudice that “some are fit, and thus ought, to rule others,” which Corey Robin sees at the root of everything on the right. No, there is something darker and dystopic at work here. People who know what kind of new world they want to create through revolution are trouble enough; those who only know what they want to destroy are a curse.

Einem der prominentesten Vertreter der Tea Party – Glenn Beck – widmet sich Lilla im Artikel "The Beck of Revelation". Beck ist Autor, TV- und Radio-Moderator und eine aggressive Gallionsfigur der libertär-religiösen Strömung. Seine polemische Rhetorik ist unnachgiebig und ohne Verständnis für den politischen Gegner. Doch Lilla sieht ihn eher als ein Sprachrohr, als den typischen Demagogen:
I’m coming to the conclusion that searching for the “real” Glenn Beck makes no sense. The truth is, demagogues don’t have cores. They are mediums, channeling currents of public passion and opinion that they anticipate, amplify, and guide, but do not create; the less resistance they offer, the more successful they are.
Er ist der Moses der Tea Party-Bewegung – "moved into the prophet business" –, für die er nun sein politisches Programm in öffentlichen Auftritten entradikalisiert. Er schimpft dann weniger auf den Regierungssozialismus, sondern mahnt die Amerikaner an, sich der Freiheit zuzuwenden. Dabei sollen sie Gott als Zentrum ihres Lebens akzeptieren. Lilla verweist hier auf eine Beobachtung von Alexis de Tocqueville: Totale Freiheit ist zu angsteinflössend – um sie auszuhalten, muss man sich einer höheren Macht zuwenden.

Die Tea Party-Bewegung sieht Lilla in "The Tea Party Jacobins" als eine im politischen Diskurs sich schon lange anbahnende Strömung, keine plötzliche Entwicklung. Zwar habe die Finanzkrise die Tea Party nun noch verstärkt und zu mehr Popularität verholfen, aber "the populist mood has been brewing for decades".


Er bezweifelt, dass die Gesellschaft antiliberaler wird, die aus den 60er Jahren stammenden Überzeugungen – Akzeptanz von Alleinerziehenden, weniger religiösen Einfluss auf die Gesellschaft und Schwulen- und Lesbenrechte – werden nicht über Bord geworfen Genauso sei der Glaube an die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Einzelnen weiter stark. 

Dass die Republikaner in Umfragen immer radikaler wirken sei nur auf eine Sache zurückzuführen: es gibt immer weniger davon. Die schrumpfenden Demokraten wurden parallel etwas linker, aber die wachsenden Unabhängigen in der Mitte hätten ihre Meinung kaum geändert.

Das Problem sei nicht der politische Einfluss der linken und rechten Radikalen. Sondern der Aufstieg der "nichtpolitischen Jakobiner". Ein grösser werdender Teil der Bevölkerung vertraut keiner Regierung und keinen Politikern. Wie in anderen entwickelten Demokratien wurde es einfach schwieriger für ein repräsentatives System, die eigenständiger werdenden Wähler zu vertreten.


Der eigentliche Auslöser der Tea Party war dann auch die Finanzkrise als Erinnerung daran, dass der Staat und die Politik – "collective response" – doch gebraucht werden. Doch der Eingriff des Staates brachte in der autonomisierten US-Gesellschaft einen eigenen Gegeneffekt zum Vorschein. Der rechte Rand sah den eigentlich gesellschaftlich akzeptierten politischen Eingriff als ein Zeichen der ausufernden Macht von Eliten, denen nun schon seit Jahrzehnten misstraut wird.


Die Republikaner wollten von dieser Bewegung profitieren. Die Präsidentschaftskandidaten nutzen die Tea Party-Anhänger für Ihre Zwecke: "Establishment Republicans will make fools of themselves trying to master a populist rhetoric they don’t know and don’t believe in". Doch dadurch gewinnen die Extremisten auch mehr Macht: "the colonized eventually colonize the colonizer". Milla sieht noch weniger Kompromissbereitschaft und Verständlichkeit auf der politischen Bühne kommen und US-Amerikaner werden weiter Respekt und Vertrauen in ihre Regierung verlieren.
They want to be people without rules—and, who knows, they may succeed. This is America, where wishes come true. And where no one remembers the adage “Beware what you wish for."

Samstag, 7. Januar 2012

Brauchen wir Schule?

Wie sollen wir in unserer Gesellschaft lernen? Ist es tatsächlich das beste System, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene jeden Tag mehrere Stunden in staatlich sanktionierten Einrichtungen - meist nur mit geringsten Wahlmöglichkeiten - durch Zwang staatlich vorgegebenes Material eintrichtern zu lassen?

Eines der für mich eindrücklichsten Bücher zum Thema Bildung ist "Deschooling Society" von Ivan Illich. Eine einfache Beobachtung stellt Illich an den Anfang seiner Überlegungen, was Schule eigentlich darstellt:
We have all learned most of what we know outside school. Pupils do most of their learning without, and often despite, their teachers. (...) Everyone learns how to live outside school. We learn to speak, to think, to love, to feel, to curse, to politick, and to work without interference from a teacher.
Die Schule wurde nie als idealer, effizientester Ort zur Wissensweitergabe gegründet. Immer waren es verschiedenste Motivationen, Kinder in die Schule, wie wir sie heute kennen, zu schicken. Schule ist auch ein Aufbewahrungsort für die Kinder und ein Ort, in dem man diszipliniert wird und lernt sich an die gegebene Ordnung des Staates und der Gesellschaft zu halten. In dem Kinder lernen was und wie man zu denken hat. Deswegen nennt Illich auch was in der Schule gemacht wird nicht "lehren" oder "bilden", sondern "schooling". Und er plädiert für ein "deschooling" - nicht nur der Schule, sondern unserer gesamten Gesellschaft.
The pupil is thereby “schooled” to confuse teaching with learning, grade advancement with education, a diploma with competence, and fluency with the ability to say something new. His imagination is “schooled” to accept service in place of value.
Illich erklärt, dass - wie andere Institutionen in unserer Gesellschaft - auch Schule sich immer weiter ausdehnt und Konkurrenz ausschliesst. Andere Formen der Bildung, des Lernens werden versucht zu verdrängen. Bildung, die nicht mit Zertifikaten, Diplomen und Zeugnissen endet, wird diskreditiert und bekämpft. Und auch nicht die Personen mit dem grössten Erfahrungsschatz und Wissen unterrichten Kinder, sondern Lehrer, die die Schule für sich monopolisiert haben.

Warum entscheidet der Staat, was unterrichtet wird? Warum sollen Schulpolitiker und Bildungswissenschaftler am besten wissen, was Kinder für ihre Zukunft brauchen? Und wenn sie es wissen - warum wird es per Zwang verordnet? Warum gibt es keinen offenen Wettbewerb, keine freie Wahlmöglichkeiten, wie und was man lernen will?

Das Schulsystem wird unaufhaltsam zusammenbrechen, prophezeit Illich. Aber er sieht zwei Szenarien, was danach kommen kann: Entweder umschliesst die "progammierte Erziehung" die gesamte Gesellschaft oder die Befreiung der Bildung mit freiem und gleichen Zugang für alle.

Das Internet lässt die Vision Illich eines freien Lernens näher rücken. Ohne Grenzen kann jeder sich das Wissen und die Kontakte suchen, die ihm wichtig sind und die er benötigt. Die Wissbegierde wird dann zum Antreiber der Bildung, nicht der Zwang.


Deschooling Society